Am Dienstag, den 24. Juni 2014 spricht Isabell Otto im Fachbereichskolloquium (17.00 bis 18.30 Uhr in H306). Thema des Vortrags, zu dem wie immer alle herzlich eingeladen sind, ist:
Die Zeit der Vernetzung. Soziotechnische Zeitordnungen unter der Bedingung digitaler Medien
Die Temporalität gesellschaftlicher und kultureller Vorgänge hat sich mit der digitalen Vernetzung grundlegend verändert. Das wird besonders innerhalb der ständig wachsenden Communities sozialer Netzwerke sichtbar – aber nicht nur dort: Videobotschaften, die nahezu in Echtzeit dokumentieren, was sich auf der anderen Seite des Erdballs abspielt, Gerüchte oder Appelle, die, binnen Sekunden weitergleitet, weltweit auf Displays erscheinen, sind Teil unserer technologisch geprägten Umwelt – egal ob wir stets online sind oder nicht. Die Zumutungen einer Medienkultur der Vernetzung sind in ihrer zeitlichen Dimension besonders augenfällig: Die Angst vor den Schattenseiten einer kontinuierlichen Erreichbarkeit oder lückenlosen Produktivität und die Sorge vor geheimdienstlicher Überwachung sämtlicher Internet-Aktivitäten eint das Ringen um Unterbrechungen, die Suche nach sich vorübergehend eröffnenden Nischen oder Auszeiten.
Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Lage unternimmt das Projekt eine medientheoretische und praxeologische Untersuchung der Zeit der Vernetzung. Im Mittelpunkt steht die mediale Bedingung von soziotechnischen Zeitordnungen. Damit sind drei Ebenen von Temporalität angesprochen: In den Blick rückt zum einen die Zeit als Passage, die sich in der Prozessualität des Digitalen wiederfindet und die Bedingung jeder Zeitordnung bildet. Zum anderen geht es um Praktiken, die temporale Strukturen und Synchronisierungen hervorbringen, um Konventionen des ‚Zeitordnens‘, die auf eine zunehmende Durchdringung des Alltags mit digital vernetzten Technologien reagieren und von dieser geprägt sind. Drittens ist mit der Rede von einer Zeit der Vernetzung auch eine Geschichtlichkeit im Sinne eines Zeitalters der digital vernetzten Medien angesprochen. Diskursiver Bestimmungen wie eine Geschichte des Internets bilden weitere temporale Formierungen, die sich ordnend auf die Zeitlichkeit der digitalen Vernetzung richten. Entlang von historiographischen Diskurspraktiken untersucht das Projekt in Fallstudien Herkünfte, Schauplätze und Situationen der aktuellen Vernetzungskultur. Die Einzeluntersuchungen richten sich auf (1) Kollaboration und Time-Sharing in der Pionierzeit vernetzter Computer, (2) die Synchronisierung menschlicher und technischer Akteure in temporalen Interfaces, (3) die Zeitlichkeit von Webcam-Bildern und die Frage nach der Darstellbarkeit von Zeit, (4) die Kontroversen um das temporale Regime einer einheitlichen Internet Time, (5) die Erinnerungskulturen und flexiblen Zeitordnungen der Kommunikation ‚in Echtzeit‘ sowie (6) auf die Individuationsprozesse und Identitätspolitiken sozialer Netzwerke.
Zentrales Anliegen der Untersuchung ist es, das Wechselspiel der drei Ebenen einer Zeit der Vernetzung gerade in seiner Spannung zwischen Prozessualität und stillstellender Zeitordnung zu untersuchen. In welcher Hinsicht bedingt und beschränkt der stete Fluss einer technologisch geprägten Umwelt die Herausbildung von Praktiken des Zeitordnens? Welche neuen Ordnungsweisen der Zeit – von flüchtigen Abstimmungen über Kulturtechniken der Zeit bis hin zu historiographischen Narrativen – werden durch digital vernetzte Medien ermöglicht oder im Sinne von Strategien der Bewältigung oder des Entzugs herausgefordert? Das Projekt zielt mit diesen Fragen auf die Bestimmung der medienökologischen Grundlage von soziotechnischen Zeitordnungen.