„Revolution in der Dunkelkammer. Konstruktionen nationaler Helden auf dem Balkan im fotografischen Bild“ – so der Titel des morgigen Vortrags im Fachbereichskolloquium (Dienstag 17.00 – 18.30 Uhr, Raum H 306) von Prof. Dr. Martina Baleva (Universität Basel).
Genauer gesagt geht es darum:
In seinem Aufsatz über die konstitutive Rolle der Fotografie für die Konstruktion ethnischer Identitäten im Rumänien des 19. Jahrhunderts beschreibt der Fotohistoriker Adrian-Silvan Ionescu unter anderem eine Gattung fotografischer Porträts als Repräsentationen „bulgarischer Nationalhelden“. Wenngleich Ionescu offen lässt, ob diese besondere Kategorie mit der geradezu inflationären Anzahl von Fotos osmanischer Bulgaren in Militäruniformen zu erklären ist, legen die zahlreich erhaltenen Fotografien von bulgarischen Migranten diese Vermutung nahe. Sie sind heute mehr denn je fester Bestandteil der kollektiven historischen Traditionspflege der bulgarischen Nation und haben sich tief in das visuelle Gedächtnis von Generationen eingeprägt – als ‚wahre’ Bildzeugnisse nationaler Revolutionäre. Kein Geschichtsbuch hat jemals auf ihre Reproduktion verzichtet, in keiner Schule oder keinem öffentlichem Gebäude dürfen sie fehlen, selbst die Nationalgarde von heute verdankt ihr Äußeres dieser Bildtradition. Ähnliche Phänomene lassen sich im gesamten Balkanraum und dem Kaukasus beobachten.
Vieles spricht jedoch dafür, dass sich die nationalen Befreiungsrevolutionen auf dem Balkan im Wesentlichen in den Dunkelkammern von Fotoateliers ereignet haben. Die kleinen Formate und die auf der Rückseite erhaltenen Beschriftungen sprechen dafür, dass die Fotografien dem privaten Andenken dienten und als bildliche Zeugnisse eines angeblich erreichten sozialen Prestiges angefertigt worden sind. Die historische Verschiebung zwischen der ursprünglichen Funktion dieser fiktionalen Selbstentwürfe und deren zweckentfremdete Wahrnehmung in der Gegenwart stehen im Mittelpunkt des Vortrages. Zur Sprache kommen vor allem bildgeschichtliche Überlegungen, welche den historischen Prozess der visuellen Zweckentfremdung von Porträtfotografie im Dienste der Nation offen legen. Während die Fotografien ursprünglich individuelle Bedürfnisse befriedigten und somit sehr heterogene Kontexte aufweisen, wurden sie vor allem von der historischen Forschung nachträglich einem homogenen Kollektivbild zugeführt, das heute den Anschein einer geschlossen auftretenden Militäreinheit für die nationale Befreiung erwecken soll.