Elisabethfenster – Neogotische Erzählstrategien

Kurz nach ihrem Tod wurde Elisabeth heiliggesprochen und ihr zu Ehren die Marburger Elisabethkirche errichtet, der früheste einheitliche gotische Kirchenbau Deutschlands. Dort finden wir ein für seine Entstehungszeit (1234—1249) sehr progressives, frühgotisches Medaillonfenster, das ebenfalls dem Leben der Heiligen Elisabeth gewidmet ist. Im Gegensatz zu Konstanz legt das Marburger ... mehr anzeigenKurz nach ihrem Tod wurde Elisabeth heiliggesprochen und ihr zu Ehren die Marburger Elisabethkirche errichtet, der früheste einheitliche gotische Kirchenbau Deutschlands. Dort finden wir ein für seine Entstehungszeit (1234—1249) sehr progressives, frühgotisches Medaillonfenster, das ebenfalls dem Leben der Heiligen Elisabeth gewidmet ist. Im Gegensatz zu Konstanz legt das Marburger Fenster den Schwerpunkt auf die besondere Milde und Wohltätigkeit der Heiligen, die sich in ihrem Wirken – wie auch in den Kompositionen der Bildfelder – den Bedürfnissen der Armen und Kranken unterordnet.

In der Neogotik wurden die Gestaltungsprinzipien und Erzählstrategien der Gotik äußerst subtil und umfassend rekapituliert, transformiert und aktualisiert. So war auch Geiges im Sinne des Programms der Neogotik bemüht, die gotische Darstellungsweise möglichst authentisch zu imitieren. Es gilt nun im direkten Vergleich der beiden Glasfenster Momente aufzuspüren, in denen sich die Prägung des Künstlers durch das 19. Jh. in die Gestaltung einschleicht und sich damit die historistische Rezeption der Gotik im 19. Jh. als modifizierende retrospektive Aneignung eines vergangenen Kunststils unter veränderten historischen Vorzeichen selbst entlarvt.

Einen ersten Eindruck vermitteln folgende Beispiele: Geiges verwendete bei der Imitation gotischer Maßwerkabschlüsse kein traditionelles Formenvokabular, sondern ein symbolisches, ornamentales Rosenmuster und von Lichtflammen durchsetzte Kronen. Auch enthalten die zahlreichen Schriftzüge, die in gotisierender Schrift verfasst sind, sowohl lateinische als auch deutsche Sentenzen – letzteres wäre aber in der Gotik undenkbar. weniger anzeigen

  • Abb. 1 von 7 - Bildquelle: Bildarchiv Foto Marburg, Elisabethfenster (Fenster s II), Bild Nr. fmc188621

    Elisabethfenster, Marburg, Elisabethkirche, 1234/1249, Restaurierung: 1903/1906

    Mittelalterliche Glasfenster wirken als Einheiten, die erst in Nahsicht ihre Heterogentität offenbaren. So wurden auch in Marburg die einzelnen Medaillonszenen in einen geometrischen Mustergrund eingebettet. (Bierschenk 1991, 183f.) Dabei existiert eine Überfülle an Wahrnehmungsangeboten, die ein großes Potential an komplexen Relationsstiftungen bietet, aber mit einer schwierigen Rezeptionssituation durch die Kleinteiligkeit der Darstellung und die fernsichtige Betrachtung verbunden ist (Kemp 1989, 263ff.). Konstanz bietet dagegen eine übersichtliche Bildfolge, in der klare Distinktionen die Komposition dominieren. Gelingt es Ihnen dennoch, eine relationale Logik und damit einen narrativen Mehrwert zwischen den Bildfeldern zu stiften?

  • Abb. 2 von 7 - Bildquelle: Bildarchiv Foto Marburg, Die heilige Elisabeth verteilt ihr Witwengut, Bild Nr. fmc426936

    Die heilige Elisabeth verteilt ihr Witwengut
    Elisabethfenster, Marburg

    Anschaulichkeit und Eindringlichkeit scheinen die Maximen in der Erzählweise des Marburger Fensters gewesen zu sein (Bierschenk 1991, 185). Individuelle Charakterisierungen einzelner Gestalten über Physiognomie und Kleidung, aber auch durch charakteristische Handlungen oder psychische Regungen sind Zeugnisse eines neuen ‚empirischen‘ und sukzessive psychologisierenden Realismus, der in der Frühgotik Einzug in die Bildwelt hält (Kemp 1987, 265ff.).

  • Abb. 3 von 7 - Bildquelle: Vanessa Grimm, Lara Kiolbassa

    Elisabethfenster, Konstanz

    Wenngleich die Figurenzeichnung im Konstanzer Fenster deutlich plastischer ausgeführt wurde, ist von einer psychologischen Nuancierung und emotionalen Aufladung kaum etwas zu spüren, allein die Kopfhaltung impliziert zumeist allgemeine Charakterzüge der Heiligen wie Demut, Frömmigkeit und Schicksalsergebenheit. Rekapituliert werden insbesondere der allgemeine gotische Stilzug von Idealisierung und schematischer Typisierung. Trotz der forcierten Unterscheidung von Stand- und Bewegungsmotiven bleibt das neogotische Fenster hinter der Erzähldynamik seines frühgotischen Vorgängers zurück.

  • Abb. 4 von 7 - Bildquelle: Bildarchiv Foto Marburg, Die heilige Elisabeth pflegt Kranke, Bild Nr. fmc426935

    Die heilige Elisabeth pflegt Kranke
    Elisabethfenster, Marburg

    Der gotische Stil ist auch als weicher bzw. internationaler Stil bekannt geworden, da er sich durch eine Vorliebe für das Zarte auszeichnet und eine schwungvolle, gleichmäßige, ungebrochene Linienführung bevorzugt, wie am Beispiel der Gewandfaltengestaltung im Marburger Elisabethenfenster ersichtlich wird. Auch das Spezifikum des grazilen ‚gotischen S-Schwungs‘ – wie im Konstanzer Bildfeld 2a dargestellt – ist dieser fließenden, weichen Formauffassung geschuldet. Zarter Anmut prägt auch die Darstellungen des Konstanzer Fensterzyklus, wenngleich die Faltenwürfe häufig nahezu geometrisch gebrochen erscheinen.

  • Abb. 5 von 7 - Bildquelle: Vanessa Grimm, Lara Kiolbassa

    Elisabethfenster, Konstanz

    Das Konstanzer Glasfenster zeichnet sich gewissermaßen durch ein Ungleichgewicht in der Rekapitulation der Aufwertung des Naturstudiums in der Gotik aus: An einigen Stellen erfolgen primitivisierende Schematisierungen (vgl. z.B. Landschafts- und Raumdarstellungen, Mimik, Dynamik etc.), während an anderer Stelle ausgeprägt naturalistische Details, wie z.B. die Tauben oberhalb des Wappens in 1b eingefügt werden, aus denen die zeitliche Distanz zur Gotik stilistisch allzu deutlich spricht.

  • Abb. 6 von 7 - Bildquelle: Bildarchiv Foto Marburg, Die heilige Elisabeth beherbergt Obdachlose, Bild Nr. fmc426928

    Die heilige Elisabeth beherbergt Obdachlose
    Elisabethfenster, Marburg

    Im Marburger Fenster sind die Hintergründe der Szenen abwechselnd einfarbig blau und rot gefasst, während die Architektur verschiedene Rollen ausüben kann. (Bierschenk 1991, 185f.) Vornehmlich wird sie als ortsanzeigende, ornamentale Chiffre im Sinne einer Rahmung der Szenerie eingesetzt, manchmal jedoch weist sie bereits ein gewisses dynamisierendes, handlungstragendes Potenzial auf (vgl. 4a), indem Schwellen als Ein- oder Ausgänge besetzt werden oder Bewegungs- und damit Handlungspotential z.B. durch Treppenstufen angezeigt wird.

  • Abb. 7 von 7 - Bildquelle: Vanessa Grimm, Lara Kiolbassa

    Elisabethfenster, Konstanz

    Im Konstanzer Fenster fällt die Raumgestaltung widersprüchlicher aus: Einerseits werden im Zuge einer forcierten, punktuellen ‚Primitivisierung‘ z.B. Tapisserien zur Auszeichnung der Dargestellten eingesetzt (vgl. 1a und 1c; 2b und 3a), ornamentale Baldachinarchitekturen in den oberen Abschlüssen der Bildfelder eingefügt oder rudimentäre Raumschachteln (2c) ohne Fluchtpunkt entworfen (vgl. Fliesenboden in 2c). Andererseits sind einige Elemente zentralperspektivisch eingepasst (z.B. Wartburg in 2a oder Altar in 2c sowie fluchtende Kacheln in 1a). Diese Brüche in der Raumdarstellung scheinen allzu plakativ auf eine vormathematische, intuitive Raumgestaltung der Gotik verweisen zu wollen.