Schnegg – Typologie

Auf den ersten Blick mag die heterogene Zusammenstellung der Brüstungsszenen verbindungslos, gar willkürlich erscheinen, jedoch sind diese über sogenannte ‚typologische Bezüge‘ miteinander verwoben. Als Typologie bezeichnet man die Vorbildung des Heilswirkens Christi, dem das Neue Testament gewidmet ist, in alttestamentarischen Ereignissen (Bloch 2015, 395). In der Vielheit der ... mehr anzeigenAuf den ersten Blick mag die heterogene Zusammenstellung der Brüstungsszenen verbindungslos, gar willkürlich erscheinen, jedoch sind diese über sogenannte ‚typologische Bezüge‘ miteinander verwoben. Als Typologie bezeichnet man die Vorbildung des Heilswirkens Christi, dem das Neue Testament gewidmet ist, in alttestamentarischen Ereignissen (Bloch 2015, 395). In der Vielheit der Geschichten des AT und NT können Einheiten gesucht und Beziehungen gestiftet werden. Dabei können sowohl Übereinstimmungen als auch feine Differenzen anhand spezifischer Beispiele sinnträchtig durchdekliniert werden. Typologie ist damit nicht nur die Grundstruktur der Erzählweise der biblischen Heilsgeschichte, sondern erweist sich auch als ein fruchtbares Verfahren der Bibelexegese. (Kemp 1994, 75-86)
Im konkreten Falle des Konstanzer Schneggs konstituiert sich der typologische Bezug zwischen dem Typus der Gideon-Geschichte und dem Antitypus der Verkündigung hinsichtlich der unbefleckten Empfängnis Mariens, die mit der ebenso wundersamen Betauung des Fells durch Gott korrespondiert: Das Widderfell ist damit ein antizipierendes Symbol für die Jungfräulichkeit Mariens. Des Weiteren manifestiert sich im Sinnbild des brennenden, sich jedoch nicht verzehrenden Dornbusches der typologische Bezug zur Geburt Christi, der auf die unversehrte Jungfräulichkeit Mariens trotz Schwangerschaft und Geburt hinweist. (Hubert 2013, S. 128ff.) Im Folgenden soll der erzählerische Mehrwert dieses relationierenden Modus (vgl. dazu grundlegend Bogen 2001, 379ff.) schrittweise weiter entfaltet werden. weniger anzeigen

  • Abb. 1 von 4 - Bildquelle: Vanessa Grimm, Lara Kiolbassa

    Der typologische Erzählmodus fordert den Rezipienten zu einer synthetischen, aktiven Rezeptionshaltung heraus: Bei der körperlichen Umrundung des Schneggs müssen sinnstiftende Bezüge zwischen den Szenen hergestellt werden. Der relationierende Modus zwischen den einzelnen Szenen und Bildfeldern dynamisiert damit die hermeneutische Ausdeutung, sodass zuletzt eine ‚neue‘, stets aktualisierbare Bilderzählung konstituiert werden kann. (Bogen 2001, 379ff.; Kemp 2011, 64)

  • Abb. 2 von 4 - Bildquelle: Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste Wien, Inv.-Nr. 17.028 und 17.055 (Ausschnitte, eigene Einzeichnungen)

    Bauriss des Schnegg (im Unterschied zum ausgeführten Bau freistehend)

    Darstellungen von Typus und Antitypus alternieren dergestalt, dass die Szenen des AT den Rahmen des Bildprogramms bilden und dabei die neutestamentarischen Abbildungen mittig einschließen. Daher bestehen nicht nur inhaltlich-typologische Bezüge zwischen den jeweiligen Bildpaaren, sondern es sind auch die jeweilig spiegelbildlichen Szenen eng verknüpft. Beide Geschichten des AT verhandeln den Auftrag zur Errettung des Volkes Israel, sodass auch Jesus als Erlöser der Menschheit, dessen Menschwerdung in den Szenen des NT thematisiert wird, in Gideon und Moses vorgebildet ist.

  • Abb. 3 von 4 - Bildquelle: Vanessa Grimm, Lara Kiolbassa

    Das lineare, teleologisch ausgerichtete Erzähl- und Geschichtsmodell des Christentums und der Bibel an sich drängt stetig von Verheißung (im Typus des AT) zur Erfüllung (im Antitypus des NT) (Kemp 1994, 75-82). Die spiralförmige Struktur der architektonischen Form der Wendeltreppe, bei der die Stufen ein Fortschreiten, keine einfache Kreiswiederholung beschreiben, modelliert sehr treffend die grundlegende Idee der Typologie. Vor diesem Hintergrund erscheint die Wahl des medialen Ortes für das typologische Bildprogramm des Schneggs nicht beliebig, sondern sollte im Gegenteil eng mit ihm zusammen gedacht werden.

  • Abb. 4 von 4 - Bildquelle: Vanessa Grimm, Lara Kiolbassa

    In der Gideon-Geschichte geht es um Verkündigung im Sinne von Prophezeiung und Erfüllung einer göttlichen Bestimmung. Die Makrostruktur der typologischen Bezüge (Korrespondenz von Verheißung und Erfüllung) wird damit in der Mikrostruktur der Darstellung thematisch. Ähnliches vollzieht sich in Gestalt der Prophetenfiguren, die eine Scharnierstellung zwischen den Relieffeldern besetzen: Sie personifizieren buchstäblich das übergreifende Thema von Verheißung und Prophezeiung in einem „nichterzählende[n] Modus“ (Kemp 1994, 46).