Sylvesterkapelle – Ikonographie

Die unscheinbare Spitzbogentür lässt von außen kaum erahnen, welch reiche Ausmalung im Inneren der Sylvesterkapelle darauf wartet, entdeckt zu werden. In den vier Jochen der Seitenwände entfaltet sich in 19 ungleich proportionierten Feldern die Passion Christi, von seinem Einzug auf einem Esel in Jerusalem an Palmsonntag bis hin zur Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten (Gröber ... mehr anzeigenDie unscheinbare Spitzbogentür lässt von außen kaum erahnen, welch reiche Ausmalung im Inneren der Sylvesterkapelle darauf wartet, entdeckt zu werden. In den vier Jochen der Seitenwände entfaltet sich in 19 ungleich proportionierten Feldern die Passion Christi, von seinem Einzug auf einem Esel in Jerusalem an Palmsonntag bis hin zur Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten (Gröber 1914, 185-189). Die Szenen wurden in zwei Registern angeordnet, wobei die Leserichtung an beiden Wänden Joch für Joch von Osten (Fensterseite) nach Westen (Türseite) ausgerichtet ist. An der ehemaligen Altarseite der Ostwand rahmen links der Hl. Sylvester sowie rechts Maria Magdalena das ornamental ausgeschmückte Fenster. An der gegenüberliegenden Westwand findet sich eine eindrückliche Weltgerichtsdarstellung.

Ebenso spannend wie aufschlussreich gestaltet sich ein Vergleich des Passionszyklus mit dem wahrscheinlich nur wenige Dekaden zuvor entstandenen Nikolauszyklus in der heutigen Schatzkammer in Hinblick auf die narratologischen Strategien, Komposition und Stilistik. Die dort unternommenen Ansätze, komplexere Raumentwürfe zu kreieren, die in den Dienst einer gleichfalls komplexeren Binnenerzählung gestellt wurden, erscheinen hier – der Entstehungszeit entsprechend – weitergeführt und vertieft. Versuchen wir also in den nachfolgenden Bildboxen zum Passionszyklus, Momente dieser Weiterentwicklung der bildräumlichen Erzählweise konkret herauszuarbeiten. weniger anzeigen

  • Abb. 1 von 5 - Bildquelle: Vanessa Grimm, Lara Kiolbassa

    Sylvesterkapelle, Künstler unbekannt, Temperatechnik a secco, 1472 (wurde bereits 1584 übermalt)

    Erste schriftliche Zeugnisse aus dem 13. und 14. Jh. belegen, dass der schmale Raum, gestiftet von der Familie Humpis aus Ravensburg, schon damals dem hl. Papst Sylvester gewidmet war (Konrad 2013, 336ff.). Die Malerei selbst ist inschriftlich auf 1472 datiert und bereits 1584 übermalt worden, was aus zwei weiteren Datierungen hervorgeht. Hinweise auf den Künstler, der den Zyklus in Temperatechnik a secco ausführte, sucht man indes vergebens. Aus der ersten Ausmalungsphase stammt auch die monochrome Gewölbemalerei (Reiners 1955, 261ff.; Roth 2013, 339f.): Entdecken Sie die Prophetenbüsten, die sich aus den fruchtbehangenen Ranken heraus konturieren?

  • Abb. 2 von 5 - Bildquelle: Vanessa Grimm, Lara Kiolbassa

    Gerade im Vergleich zum Nikolauszyklus wird deutlich, dass die Komplexität der Bildräume und proportional dazu auch diejenige der Erzählung zugenommen hat: Die Landschaft hat an Tiefenräumlichkeit gewonnen und wurde zugleich mit narrativen Details (Micheler 1992, 120) angereichert: Im ersten Bildfeld entdecken wir einen Jungen, der in den Baum geklettert ist, um einen besseren Blick auf den einziehenden Jesus erhaschen zu können. Im dritten Bildfeld wiederum kündigt sich der unheilvolle Verrat durch Judas an, der die Schergen hier noch – aus Respekt vor dem Gebet Jesu oder um einen vermeintlichen Überraschungsangriff zu starten– zurückhält.

  • Abb. 3 von 5 - Bildquelle: Vanessa Grimm, Lara Kiolbassa

    Der Künstler beweist an einigen Stellen sein Vermögen, die Zentralperspektive im Gegensatz zum Nikolauszyklus kohärent anzuwenden, indem er z.B. Hintergrundarchitekturen und Ausstattungsobjekte des Innenraumes (z.B. Herrscherthron; Fliesenboden) in die Tiefe fluchten lässt. Einigen Aufwand betreibt der Künstler dabei, Erzählkonstanten zu erzeugen, indem Gewänder an die jeweilige Situation angepasst (vgl. Jesus) oder als Kennzeichen bestimmter Personen (z.B. Peiniger Jesu) konsequent wiederholt werden.

  • Abb. 4 von 5 - Bildquelle: Vanessa Grimm, Lara Kiolbassa

    Ähnlich dem Nikolauszyklus scheint die Darstellung eher einem dokumentarischen Realismus als einer komplexen Psychologisierung verpflichtet: Bei der Kreuzigung und der Beweinung verweist die Körperhaltung auf das seelische Drama der Angehörigen, während die Mimik tendenziell neutral gehalten ist. Die Malerei gewinnt auch hier ihre Drastik in einer gesteigerten Fokussierung auf realistische Details (Micheler 1992, 120), z.B. bei der expliziten Darstellung des blutüberströmten Körpers Jesu oder bei ‚pragmatischen‘ Aspekten der Passionsgeschichte wie dem Ziehen der Nägel mit einer derben Zange bei der Kreuzabnahme.

  • Abb. 5 von 5 - Bildquelle: Vanessa Grimm, Lara Kiolbassa

    Gerade in der Vorhöllenszene werden die Errungenschaften der neuen Raumerzählung sichtbar: Jesus wird vor einer weltlichen Tiefenlandschaft an der architektonischen Schwelle zur Hölle verortet und sein bevorstehender Abstieg in die Unterwelt damit impliziert. Der aufgespannte Schlund des Höllentieres wurde hier geschickt in den abfallenden Jochbogen eingefügt. Ein ausgeklügelter Umgang mit den Bildformaten zeigt sich auch bei der Himmelfahrt, wo wir gerade noch die Beine des in den Himmel auffahrenden und damit geradewegs aus dem Bildfeld herausfahrenden Christus sehen, analog zur Himmelfahrtsdarstellung im Münsterportal.