Weltgerichtsdarstellung in der Sylvesterkapelle

An der Türseite wird der Betrachter mit einer komplexen Weltgerichtsdarstellung konfrontiert und damit auf die ‚Letzten Dinge‘ zurückgeworfen, die ihn nach dem Ende des irdischen Lebens erwarten. Christus thront als Weltenrichter auf einem Regenbogen, von seinem Munde geht ein Schwert aus und seine Rechte scheidet die Guten von den Bösen. Umgeben ist er von Maria, der Fürsprecherin ... mehr anzeigenAn der Türseite wird der Betrachter mit einer komplexen Weltgerichtsdarstellung konfrontiert und damit auf die ‚Letzten Dinge‘ zurückgeworfen, die ihn nach dem Ende des irdischen Lebens erwarten. Christus thront als Weltenrichter auf einem Regenbogen, von seinem Munde geht ein Schwert aus und seine Rechte scheidet die Guten von den Bösen. Umgeben ist er von Maria, der Fürsprecherin der Sünder, und Johannes dem Täufer. Petrus empfängt mit dem Schlüssel zum Himmelstor einige nackte, von den Toten Auferstandene. Rechts eröffnet sich der bereits aus der Vorhöllenszene bekannte Höllenschlund, in den einige Verdammte, darunter nach alter ikonographischer Gewohnheit auch ein Papst, getrieben werden. Die Kompositionsweise folgt dabei traditionell einer symmetrischen Bildordnung, da sie in eine Seite des Lichts und der Erlösung und in eine Seite der Finsternis und Verdammnis unterteilt wird (Micheler 1992, 124).

Auffallend ist, dass die irdische Partie der Szene (Gräberlandschaft) einer zentralperspektivischen Raumlogik folgt, während das überirdische, nämlich himmlische und höllische Geschehen einer stärker ornamentalen Flächenlogik unterstellt ist. Die gebrochene Raumkomposition könnte leicht als ‚fehlerhaft‘ abgetan werden, spannender ist aber, sie in ihrer spezifischen Verfasstheit ernst zu nehmen und in Hinblick auf eine Interpretation der Szene fruchtbar zu machen. Das außerhalb einer zeitlichen und räumlichen Ordnung stehende Weltgericht vereitelt nämlich hier gewissermaßen auch die Gestaltung eines kohärenten Bildraumes. Dessen konsequente tiefenräumliche Einrichtung würde der Maler aber durchaus beherrschen, wie er an anderen Stellen des Zyklus bereits bewiesen hat. weniger anzeigen

  • Abb. 1 von 2 - Bildquelle: Vanessa Grimm, Lara Kiolbassa

    Weltgericht in der Sylvesterkapelle (Ausschnitt)

    Aufgrund baulicher Zwänge in Verbindung mit der Errichtung des Kapitelsaals um 1453 wurde der Raum in Länge wie Breite wesentlich verkürzt, worauf die bedrängte Türsituation zurückzuführen ist (King 2013, 334f.). Diese sollte in ihren Implikationen für den Kapellenbesucher mit bedacht werden: Das Verlassen der Kapelle gestaltet sich nämlich alles andere als harmlos, da der Betrachter die Tür unterhalb der Höllenszenerie durchschreiten muss. Wird er dadurch nicht eindringlich zur Reflexion seiner eigenen Sündhaftigkeit angeregt?

  • Abb. 2 von 2 - Bildquelle: created by Peter Jezler – CC BY-SA 4.0

    Was erwartete überhaupt einen frommen Christen des Spätmittelalters nach seinem Ableben? Ein Schaubild von Peter Jezler kann das verdeutlichen: Zunächst richtet ein Partikulargericht unmittelbar nach dem Tod über die Einzelperson. Die bösen Menschen kommen auf direktem Weg in die Hölle, die überragend Guten, nämlich Heiligen, in den Himmel. Der Durchschnittsmensch gelangt erst nach seiner Sündenbuße im Fegefeuer in den Himmel. Das Partikulargericht ist daher eine Denkfigur der christlichen Theologie, die das eigentliche Weltgericht (ein wenig blasphemisch formuliert) zu einem bloßen ‚Show-Akt‘ degradiert: Hier erfährt nämlich die gesamte Menschheit das Schicksal des Einzelnen, bevor dieser wieder zurück in den Himmel oder die Hölle fährt.