Ist es ein Zufall, dass in dem Streitlied, in dem Heinzelin von Konstanz zwei Frauen die jeweiligen Vorzüge von Rittern und Pfaffen als Liebhaber erörtern lässt, ausgerechnet Parzival als der ideale Ritter, dem keiner mehr gleichkommt, erwähnt wird? Heinzelin muss das Fresko gekannt, evtl. sogar seine Entstehung verfolgt haben. Vielleicht hat er ja den damaligen Kustos von St. Johann, der kein Asket gewesen sein kann, in seinem Lied indirekt und augenzwinkernd verewigt.
Heinzelin von Konstanz, Von dem Ritter und von dem Pfaffen, Um 1320, Vers 323-337
Der Pfaffe Amis ist der erste deutschsprachige Schwankroman und wurde von einem nur als „Der Stricker“ bekannten Autor zwischen 1220 und 1250 verfasst. In diesem populären Text treibt ein sehr lebenslustiger englischer Pfaffe namens Amis sein nicht immer ganz moralisches Unwesen. Interessanterweise gibt sich dieser in einer Episode als Maler aus und bietet dem König von Frankreich an, einen Saal mit wundersamen Bildern auszumalen. Da er behauptet, diese Wandmalereien könnten nur von ehelich gezeugten Menschen gesehen werden, wird er zuletzt mit großem Lob für seine Bilder und viel Geld belohnt, ohne auch nur einen Pinselstrich geführt zu haben. Denn niemand möchte den eigenen Ruf angezweifelt wissen.
Kann auch wirklich jeder die Parzivalfresken sehen?
Der Stricker, Pfaffe Amis, Gedruckt von Johann Prüß zu Straßburg, ca. 1478, Rar. 422, Bl. 6r. München, Bayerische Staatsbibliothek.
Ein sanft gewölbtes Bäuchlein, ein leichtes Hohlkreuz bei einer ansonsten sehr aufrechten Sitzhaltung... Spricht hier nicht einiges dafür, dass die stolze grüngewandete Dame in anderen Umständen sein könnte?
Steht man frontal vor dem jeweiligen Wandgemälde, so blicken die beiden mittigen Figuren (der zu Tisch sitzende Parzival und die Tuch schneidende Weberin) jeweils nach rechts. Da sich die beiden Fresken aber an den gegenüberliegenden Wänden desselben Raumes befinden, wenden sich der Ritter und die Schneiderin – möchte man sie sich sozusagen quer durch den Raum einander erkennen lassen – in situ und damit de facto einander zu.
Diese Tendenz teilt das Fresko mit anderen kulturellen Zeugnissen aus dem Konstanz seiner Zeit. An erste Stelle ist da die „Minnelehre“ des Johann von Konstanz zu nennen, die wenige Jahre vor den Kunkel-Fresken entstand und als literarischer Ratgeber praktische Ratschläge in Sachen Liebe gibt. Die „Minnelehre“ ist als Anhang der ebenfalls in Konstanz entstandenen Weingartner Liederhandschrift, einer der bekanntesten Minnelieder-Sammlungen überhaupt, erhalten. Ganz besonders jedoch scheint das Streitgedicht „Von dem Ritter und von dem Pfaffen“ des Heinzelin von Konstanz, das zur selben Zeit wie die Parzivalfresken entstand, wie zum Vortrag im Angesicht des Kunkel-Parzivals verfasst zu sein. Es lässt zwei Frauen die Frage erörtern, ob ein Ritter oder ein weltlicher Kleriker, also ein nicht in der Seelsorge tätiger Geistlicher, als Liebhaber vorzuziehen sei. Eine der beiden bringt dabei das Argument vor, das auch die erotischen Aspekte der Fresken im geistlich-repräsentativen Haus zur Kunkel ganz lapidar entschuldigt: „ein pfaffe ist als ein ander man von fleisch unde von bein.“ (Pfeiffer, 1852, S. 109)
Einmal auf die Spur solcher Auslegungen gesetzt, sei hier kurz eine letzte übergreifende Beobachtung erlaubt. Das zentrale Bildfeld der Weberinnen zeigt eine rot(!) gekleidete Frau, die direkt über ihrem Schoß Stoff zerschneidet. Ihr direkt gegenüber in der Mitte des Parzivalfreskos ist Parzival zu sehen: auf dem Tisch liegt ein Fisch, der sich planimetrisch betrachtet auf der Höhe seines Geschlechts befindet – und das in einer Episode, in der er im Roman ausdrücklich entkleidet und in all seiner Jünglingspracht von jungen Mägden gebadet wird. Geht es da zu weit, beim Fisch an Ichthyo-Phallik, beim zerschnittenen Stoff im Schoß an das durchstoßene hymen zu denken? Lässt man diese Gedanken zu, so kommt es in der Mitte des Raumes, sozusagen im Geist des Betrachters zum hieros gamos von vita activa und vita contemplativa. Dass dies durchaus ein fruchtbarer Gedanke sein kann, zeigt die nächste Weberin in der Abfolge: sie sitzt mit auffallend dickem, vorgestrecktem Bauch da und fertigt stolz ‚Täschlein‘. Ein „tumber Tor“, wer Böses dabei denkt?