Christliche Deutungsmöglichkeiten – Parzival als Heiliger?
Auch wenn Parzival im Konstanzer Fresko auf den ersten Blick nur weltliche Abenteuer besteht, so geschieht das im Verständnis des frühen 14. Jahrhunderts, das den tugendhaften Ritter und seine Heldentaten in einen größeren, heilsgeschichtlichen Zusammenhang stellt. So hat Norman Ächtler (2007, S. 294) gezeigt, dass die Parzival-Geschichte, wie sie an der Wand im
Haus zur Kunkel ‚erzählt‘ wird, auffallend der klassischen Form der Lebensgeschichten von Heiligen, den sogenannten Heiligenviten, entspricht. In diesen deutet sich die ‚Auserwähltheit‘ eines späteren Heiligen meist in einer ungewöhnlichen Geburt (laut Wolfram war Parzival ein riesiger Säugling) an. Später weisen dann ‚Helfer‘ (hier Gurnemanz, Condwiramurs und Sigune) dem noch Sündigen den rechten Weg. Sobald dieser dann eine innere Läuterung durchlaufen hat und sich zur Nachfolge Christi aufmacht, wird dies mit einer Veränderung des Äußeren veranschaulicht (Parzival wird mehrmals neu eingekleidet). Nach einem Martyrium wird der gottgefällige Mensch schließlich zum Heiligen, wodurch die
Imitatio Christi vollends vollzogen ist. Für Wolframs Parzival besteht das Martyrium – welches allerdings im Konstanzer Wandgemälde ausgespart ist – aus abgründigstem Hadern mit Gott, das er erst überwinden muss, bevor er im Epos Gralskönig werden kann.
Auch einige Motive des Parzival-Wandgemäldes lassen sich kaum losgelöst von ihrer christlich ikonographischen Tradition betrachten. So spielt die Geburt des Parzival – besonders mit der entsprechenden Romanstelle im Hinterkopf, welche die Königin direkt mit der regina coeli vergleicht – auf die Geburt Christi und zugleich auf die Geburt Johannes’ des Täufers an (Saurma 2002, S. 308). Auch die Tischszenen konnten in den Augen eines mittelalterlichen Betrachters stets Verweise auf das letzte Abendmahl generieren.Wer das Parzival-Fresko systematisch nach Bezügen zur christologischen Ikonographie durchsucht, findet manche Anspielungen sogar in der richtigen Reihenfolge: Von Weihnachten (Parzivals Geburt) und dem Einzug in Jerusalem (das “pfärdelîn“) über das letzte Abendmahl (Tischszene) und der Pietà (Sigune) bis hin zum sehr wahrscheinlich ursprünglich abgebildeten, quasi-himmlischen Thron der Gralstafel.